Universitätskommunikation – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

„Jahr100Wissen“: Rassismus als Weltordnungsprogramm der modernen europäischen Kultur

02.09.2020|09:17 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Noch bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts fanden auch in Deutschland Völkerschauen statt – sie stellten Menschen eines fremden Volkes zur Schau und lockten großes Publikum an. Im Interview spricht die Rassismusforscherin Dr. Arzu Çiçek über die Auswirkungen, die sie bis heute haben.

Dr. Arzu Çiçek<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foro: Größere Version</span>

Schon die alten Ägypter stellten Menschen, die anders aussahen oder fremd wirkten, öffentlich zur Schau. Im 19. Jahrhundert erlebten diese „Menschenzoos“ unter dem Namen Völkerschau in Europa einen ungeheuren Boom. Was wurde dort gezeigt?

Çiçek: Ich antworte aus der Sicht einer Erziehungswissenschaftlerin und Rassismusforscherin und möchte mit einer Vorbemerkung bezüglich des Begriffes „Menschenzoo“ beginnen. Diesen halte ich in einer ungebrochenen Reproduktion für problematisch und zwar insofern, als dass wir, wenn wir solche Ausdrücke wiederholen, in gewisser Weise auch den kolonialen Blick wiederholen, der in der Phänomenalität dieses Wortes „Menschenzoo“ zu sehen ist. Wenn wir weiterhin durch unsere Sprache Menschen entmenschlichen, versperren wir durch diese Handlungspraxis wiederum uns selbst Perspektiven auf Menschen, Realitäten und Persönlichkeiten. Deshalb würde ich dafür plädieren, das ist meine Vorbemerkung, dass wir andere Ausdrücke suchen, um diese Praxis nicht zugunsten einer von Gewalt gezeichneten Kontinuität fortzusetzen.


Aber nun zu der Frage, was dort, in den sogenannten Völkerschauen, gezeigt wurde. Die Frage ist für mich eher, was können wir über das Zeigen solcher Aus- oder Schaustellungen aufzeigen? Das Ausstellen ist hier wichtig. Das Ausstellen, wenn ich es als Erziehungswissenschaftlerin betrachte, ist zunächst einmal eine Praxis, die auf die Bildung der Besucher*innen, die zu diesen Aus- oder Schaustellungen gekommen sind, gezielt hat. Das Ausstellen ist als solches eine Praxis, die an der sozialen und kulturellen Sinnbildung teilhat. Der entscheidende Punkt ist, dass bei jeder Schaustellung, das Ausgestellte nicht einfach nur Objekt ist. Jede Ausstellung ist ein Netzwerk, also ein Zusammenhang von immateriellen und materiellen Akteuren. Man kann das Ausstellen also als ein arrangiertes Gefüge bezeichnen.

Im Hinblick auf das Arrangierte solcher Aus- oder Schaustellungen kann man vielleicht eine Gemeinsamkeit zwischen den alten Ägyptern und den Ausstellungen des 19. Jahrhunderts sehen. Aus erziehungswissenschaftlicher und rassismuskritischer Sicht muss man aber, und dies markiert einen Unterschied, sagen, dass das 19. Jahrhundert eine Zeit europäischer Imperien war und die Zeit des Kolonialismus. Wenn wir die Schaustellungen sogenannter Völkerschauen verstehen wollen, müssen wir sie als arrangierte Gefüge in dieser Entwicklung betrachten. Der Rassismus als eine spezifische europäische Erfindung, in dieser Phase expandierender europäischer Imperien, in der Zeit des Kolonialismus am Anfang der Moderne, hat diese besonderen Schaustellungen bedingt, ermöglicht und erfordert.
Wir können diese Schaustellungen vor dem Hintergrund der Erfindung der Menschenrassen und der Legitimierung der Sklaverei als einen Teil einer Verschiebung im Verständnis der europäischen Kultur betrachten. Sie sind Teil einer neuen Erzählung vom Menschen, Teil eines großen Bildungsprojekts.

Der Reiz des Unbekannten lockte Millionen Europäer*innen in diese Völkerschauen. Machten diese Veranstaltungen den Rassismus populär?

Çiçek: Dass Millionen Europäer*innen an solchen Schaustellungen teilnahmen, zeigt zumindest schon, dass es ein großes Geschäft war. Unter dem Aspekt der Bildung muss man neben der Erzählung auch den Blick auf die Bildung bestimmter Körperschemata mit in Betracht ziehen. Die Teilnahme an einer Schaustellung spricht mehr an, als das, was ein Schulbuch in Buchstabenformen anordnen kann. Statt schematischer Ordnungen von Rassen kann man dort lebendige Menschen sehen. Die Teilnahme an einer Schaustellung unterscheidet sich in einer besonderen Hinsicht. Hier kommt die Erfahrung als Spektakel ins Spiel. Die Erfahrung läuft über eine sinnliche Teilnahme und greift als solche viel stärker in eine affektive, psychische Dimension hinein. Hier findet, wie gesagt, Körperbildung statt. Das heißt Völkerschauen popularisieren den Rassismus nicht nur, das tun sie auch. Sie forcieren ihn noch. Sie statten die sprachliche Ordnung, die Menschheit sei, wie etwa Kant in seinen pädagogischen Schriften definiert, in ihrer größten Vollkommenheit in der weißen Rasse, mit der Kraft eines Affekts und der die Erfahrung begleitenden Emotion aus.

Das wichtigste bei diesen Schauen war, dass sich die Europäer den fremden Kulturen überlegen fühlten. Ist das nicht auch ein Phänomen, dass sich heute in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund beobachten lässt?

Çiçek: Das Überlegenheitsgefühl ist nur ein Aspekt des Bildungsgeschehens, dass die Gesellschaft der beginnenden Moderne und des 19. Jahrhunderts grundsätzlich verändert hat. Was es in einer sogenannten Völkerschau zu sehen gab, waren weder Völker, noch Kulturen, noch Gesellschaften. Hier wurden lediglich einzelne Menschen als Exemplare, als Beispiel von etwas ausgestellt, wovon nicht sie selbst sprechen, sondern die Erzählungen von Menschenrassen. Menschen werden auf der Bühne oder in Käfigen präsentiert und in eine ganz andere Sprache und Kultur eingebettet. Sie werden in Formen präsentiert, die wenig oder gar nichts mit dem zu tun haben, wie sie ihr Leben zuvor gelebt haben.

In Bezug auf sogenannte Migrant*innen oder Menschen mit Migrationshintergrund kann man aufzeigen, dass auch diese immer wieder auf eine bestimmte Weise präsentiert werden. Ich denke dabei an Presse, Fernsehen, Internet. Wie schnell werden Menschen einem Label, etwa des Migrant*in-seins, zugeordnet, in Formen gepresst, die nicht nur stereotyp sind. Heute gibt es eine mächtige, um es mit Adorno zu sagen „Kulturindustrie“ dafür. Hier werden Menschen mit dunkler Hautfarbe beispielsweise gezielt sexualisiert, kriminalisiert oder dämonisiert. Und darauf verweist die Rassismusforschung schon seit langem.

Auch für Wuppertal gibt es so ein trauriges Beispiel. Bei der Völkerschau 1885 sollte die schon tuberkulosekranke Aborigine mit dem ihr verliehenen Namen Sussy Dakaro als „Bumerang werfende Kannibalin“ im Wuppertaler Zoo auftreten. Doch die 17-Jährige war zu schwach und starb in Sonnborn. Der Bürgerverein weihte 2017 eine Gedenktafel auf ihrem Grab, dass man noch ausfindig machen konnte, ein. Wann endeten diese Ausstellungen?

Çiçek: „Die Bumerang werfende Kannibalin“ bestätigt erst einmal das, was ich bereits gesagt habe. Aus meiner Perspektive gibt es bis heute kein Ende solcher Schaustellungen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ja unsere technische Kultur sehr verändert. Wie die Malerei durch die Fotografie abgelöst wurde, ist die Schaubühne heute längst das Fernsehen und das mediale Angebot im Internet. Wenn man hinschaut, dann sieht man einiges. Rassismus wird in der Werbung reproduziert, vor wenigen Wochen in einem VW-Spot, oder im Sonntagabend-Krimi. Aber auch in Schulbüchern, politischen Reden usw. werden rassistische Stereotype reproduziert.

Wie wirkt sich Rassismus heute in unserer Gesellschaft noch aus?

Çiçek: Es geht in der rassistischen Ordnung der Welt, der Umgangsweise mit Menschen und ihrer Wertschätzung im Allgemeinen um die Herstellung einer Hierarchie. Und so wirkt sich Rassismus auch heute aus. Nicht nur in kultureller oder moralischer Hinsicht, sondern vor allem auch in materieller Hinsicht profitieren auch heute noch bestimmte Menschen von rassistischen Ordnungen, während andere immer wieder durch erneuerbare Erfahrungen körperlich, geistig, seelisch verletzt, beschädigt oder sogar ermordet werden. Die Bilder von George Floyds Ermordung, die uns immer noch beschäftigen, und die viele Menschen nicht vergessen können, sind nur ein Ereignis, vieler schlimmer Ereignisse, die sich jeden Tag überall auf unserem Planeten aufgrund dessen ereignen, weil Rassismus heute noch immer nicht zur Vergangenheit unserer Welt gehört.

Rassismus ist ein Weltordnungsprogramm der modernen europäischen Kultur. Lange Zeit wurde er entweder der Vergangenheit zugeschrieben oder dem Schauplatz von Neonazis. Rassismus ist aber ein Teil unserer Alltagskultur und dort nicht nur im politisch rechten Milieu etabliert. Mit seinem Erbe werden wir uns noch lange beschäftigen, um zu verstehen, was Rassismus ist und wie er funktioniert.

Uwe Blass

Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Dr. Arzu Çiçek studierte Germanistik und Soziologie auf Lehramt in Paderborn und Wuppertal. Seit 2016 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migrationspädagogik, Alterität und Rassismuskritik.

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