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„Jahr100Wissen“: Das Little-Albert-Experiment

10.09.2020|12:35 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität Wuppertal mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. 1920 führte der amerikanische Psychologe John B. Watson ein Experiment durch, das bis heute ein vielzitiertes im Humanbereich ist. Dr. Alexandra Martin ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie. Im „Jahr100Wissen“-Interview spricht sie über den Hintergrund des Experiments und macht deutlich, warum es so heute nicht mehr durchzuführen wäre.

Prof. Dr. Alexandra Martin<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Der amerikanische Psychologe John B. Watson gilt als Begründer des Behaviorismus. Mit dem sogenannten Little-Albert-Experiment machte er 1920 Schlagzeilen. Es ist eine der bekanntesten Studien der Psychologie. Worum ging es in diesem Experiment?

Martin: Watson wollte nachweisen, dass emotionale Reaktionen durch Lernerfahrung ausgebildet und differenziert werden und dass diesen Lernerfahrungen eine sogenannte klassische Konditionierung zu Grunde liegt. Und dann hat er diese Untersuchung im Johns Hopkins Hospital gemacht, in dem auch eine Art Säuglingsstation war. Dort gab es ein Kind, der sogenannte „Little Albert“, der dort die ersten neun Monate aufgewachsen ist. Zunächst hat er eine Bestandaufnahme gemacht, indem er die emotionalen Reaktionen des Kindes im Alltag untersuchte. Dabei stellte er fest, dass „Little Albert“ ein extrem stabiles, ruhiges – er beschreibt es gar als stoisches – unauffälliges Kind war.

Er hat die Konditionierungskenntnisse, die man in der damaligen Zeit eher aus Tierexperimenten nach Pawlow gewonnen hatte, auf das Kind hin weiterentwickelt. In der ersten Beobachtungsphase konfrontierte er Albert mit allen möglichen Dingen, die erwartungsgemäß keine Angst auslösen. Das waren u.a. eine weiße Ratte, ein Hase, ein Fell, eine brennende Zeitung und eine Maske. Und in der Tat hat sich das Kind eher neutral daraufhin verhalten oder manchmal sogar eine neugierige Annäherungsreaktion gezeigt. In der zweiten Phase hat er zunächst die emotionalen Reaktionen mit Hilfe eines unkonditionierten Reizes, der eine Angstreaktion hervorruft, getestet. Wir wissen ja, dass es bestimmte Reize gibt, welche bei nahezu jedem Menschen eine Schreckreaktion hervorrufen würden, also zum Beispiel ein lautes Geräusch oder ein lauter Schlag. Das sind unkonditionierte Reize, die zu physiologischen oder emotionalen Reaktionen führen. Genau das hat er dann an dem Kind getestet. In dem Fall war es ein Schlag mit einem Hammer auf eine Eisenstange. Albert reagierte tatsächlich mit Schrecken darauf.

In der nächsten Untersuchungsphase hat er das Kind wieder mit den vorangegangenen neutralen Reizen, also Ratte etc. konfrontiert und hat parallel seine Assistentin diesen unkonditionierten Reiz, also den Hammerschlag, auslösen lassen. Das Kind entwickelte erst einmal die unkonditionierte Angstreaktion. Weiter schildert Watson in seinem Artikel, der 1920 publiziert wurde, die genauen Reaktionen des Kindes bei jedem Durchgang in der Konfrontation mit Ratte plus lautem Geräusch. Und dann zeigte sich bereits in der Kontrolle eine Angstreaktion, wenn Albert nur mit der Ratte ohne Geräusch konfrontiert wurde. Das hat Watson über mehrere Wochen durchgeführt und beschreibt es tagebuchartig in seinen Aufzeichnungen.

Was er auch prüfen wollte war, wie die konditionierte Reaktion auf andere Reize übertragen, also generalisiert wird. Ein Transfer auf andere Reize, die Parallelen mit dem Ursprungsreiz aufweisen. Also erst Ratte, dann ein Fell und dann so weiter durchkonjugiert, bis das Kind auch vor seiner Santa Claus-Maske mit Bart Schrecken zeigte, die bis dato ein neutraler Reiz war. Das Kind entwickelte auf all diese neutralen Reize diese typischen Angstreaktionen. Insofern ist es eines der vielzitiertesten, frühen Experimente, in dem man im Humanbereich gezeigt hat, dass es eine konditionierte emotionale Reaktion gibt.

Was wollte Watson erreichen?

Martin: Man muss trennen zwischen dem, was er erreichen wollte und was Grundmodelle der Angstforschung sind. Watson wollte zeigen, dass emotionale Reaktionen durch diese Kopplung eines neutralen Reizes mit einem unkonditionierten Reiz hervorgerufen werden können, die – so seine unüberprüfte Annahme – von großer Reichweite seien, das heißt sich lange in der Persönlichkeitsentwicklung auswirken. Die Annahme war, solche gezielten frühen Lernerfahrungen würden zur Persönlichkeitsausbildung beitragen. Heute wissen wir, wenn wir von der klassischen Konditionierung sprechen, dass diese Reaktionen auf bestimmte gelernte Auslösereize irgendwann auch wieder abklingen, wenn nicht weitere Umstände zur Aufrechterhaltung der gelernten Reaktion beitragen.

Von John B. Watson stammt das Zitat: „Gib mir das Baby und meine Welt, damit ich es heraufbringen kann, und ich werde es krabbeln und gehen lassen. Ich werde es klettern und seine Hände beim Bau von Gebäuden aus Stein oder Holz verwenden lassen. Ich mache einen Dieb, einen Schützen oder einen Drogenjunkie aus ihm. Die Möglichkeit, in jede Richtung zu formen, ist nahezu unbegrenzt.“ Hat er damit recht?

Martin: Das Zitat passt auf jeden Fall zu seiner Intention, die er mit diesem Experiment hatte; der Idee, das junge Kind komme wie so eine Art Tabula rasa auf die Welt und dass sich Persönlichkeitsentwicklung, also die Assoziation, dass es ein Dieb oder Drogenjunkie werden könne, frühen Lernerfahrungen unterliege. Dieses Zitat wird recht häufig gebracht, ist aber oft auch aus dem Kontext gerissen. Watson hat selbst ergänzt – da geht er über das belegte Wissen hinaus –, dass es eine Annahme sei. Vielleicht wollte er auch polarisieren, um eine Position deutlich zu machen.

Für die einen ein Meilenstein in der Verhaltensforschung, für die anderen ein methodisch wie moralisch fragwürdiger Versuch. Wie schätzen Wissenschaftler*innen das Experiment heute ein?

Martin: Eine schlichte Antwort wäre, dass man es als einen Einzelfall oder ein Einzelfallexperiment beschreiben kann. Es gibt viele Fragen zum methodischen Vorgehen nach heutigen Vorstellungen in psychologischen Experimenten, weil wir ja auch Kontrollbedingungen schaffen. Der Forschungsaufbau wäre im 21. Jahrhundert sicherlich anders. Auch hat man mit dem heutigen Verständnis eine andere ethische Haltung ausgebildet. Daher wäre ein dergestaltiges Experiment heute aus ethischer Sicht äußerst fragwürdig. Es gibt so viele Aspekte. Ist es überhaupt ethisch vertretbar, dass wir eine emotionale Reaktion konditionieren? Ja, könnte man sagen, das ist ethisch noch vertretbar, wenn bestimmte Rahmenbedingungen eingehalten werden.

Hier gibt es aber eine Besonderheit. Wir haben ein sehr junges Kind, welches über mehrere Wochen an einem Versuchsaufbau teilgenommen hat, mit dem Risiko, dass das langwierige Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes hat. Wir hatten damals kein Einverständnis von Erziehungsberechtigten. Forschung wurde noch aus einem anderen Menschenbild herausgemacht und es gibt extreme Errungenschaften in den letzten 50 Jahren. Nicht nur Watson, sondern auch andere Untersuchungen im Humanbereich in der Medizin und in der Psychologie haben dazu geführt, dass man kritisch prüft, unter welchen Bedingungen Menschen an Untersuchungen teilnehmen.

Watson wollte in einer zweiten Phase des Experiments die Ängste des Kleinkindes wieder dekonditionieren. Aus welchen Gründen klappte das nicht mehr?

Martin: Interessant ist, dass Watson festgestellt hatte, dass das Kind über mehrere Wochen immer noch diese Angstreaktion zeigte, und er selbst eine Phase planen sollte, in der man dafür Sorge trägt, dass es potenziell wieder zu einem Umlernen kommt. Und dann beschreibt er in seinem Artikel auch, dass man unglücklicherweise den sogenannten „Albert“ nach dem letzten Versuch aus dem Hospital genommen habe, sodass er nicht mehr die Möglichkeit hatte, diese Dekonditionierung oder eine neue Lernerfahrung anzuwenden.

Der amerikanische Psychologie Hall Beck wollte später erfahren, was aus „Little Albert“ geworden ist, den er nach langer Recherche als Douglas Merritte identifizierte. Was hat er herausgefunden?

Martin: Der Psychologe Hall Beck hat mit Kollegen recherchiert, welche Krankenschwestern in dieser Zeit im Hospital tätig waren und möglicherweise als Mütter von Little Albert in Frage kommen. Dass die Mutter eine Säuglingsschwester im „Harriet Lane Home for Invalid Children“ war, ist der ursprünglichen Publikation zu entnehmen. In dem Untersuchungszeitraum 1919 eruierte man potenziell drei Frauen, wovon eine Afroamerikanerin ausgeschlossen werden konnte, da Albert ein weißes Kind war. Zwei weitere Mütter blieben: Pearl Barger und Arvilla Merritte. Die Wissenschaftler fokussierten sich letztendlich auf Arvilla Merritte, da diese im März 1919 einen Sohn geboren hatte. Das passte von den Altersangaben zu dem errechneten Zeitraum des Artikels von Watson. Nach weiteren Recherchen zogen sie in Zweifel, dass das Kind so gesund war, wie es Watson in seiner Verhaltensbeobachtung beschrieben hatte. Auf Basis der Filmaufnahmen, die es ja noch gibt und die man auch einsehen kann, glaubten sie, dass das Kind eine neurologische Erkrankung gehabt haben müsse.

Der Psychologieprofessor Russell Powell von der University in Edmonton konnte wiederum keine Anzeichen für eine neurologische Auffälligkeit in den Filmen sehen. Er informierte sich dann über die zweite potenzielle Mutter, Pearl Barger. Sie hatte drei Kinder und das älteste Kind hatte sogar den Zweitnamen Albert. Er fand über Nachfahren heraus, die den besagten Albert beschrieben, dass dieser Angst vor Hunden gehabt hätte. Selbst wenn dem so gewesen sein sollte, wäre das natürlich auch kein zwingender Beleg für die Teilnahme oder Wirkung der Experimente. Im Endeffekt wissen wir es bis heute nicht. Es kann auch ein völlig anderes Kind gewesen sein. Das Mysterium bleibt.

Uwe Blass

Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Prof. Dr. Alexandra Martin ist Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Bergischen Universität und leitet die Psychotherapeutische Universitätsambulanz.

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