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„Bergische Transfergeschichten“: Die Sehnsucht nach Ruhe ist spürbar

24.08.2021|13:00 Uhr

„In Israel wollen die meisten Menschen einfach nur in Ruhe leben“, sagt Dr. Carsten Schliwski, Lehrbeauftragter für Religionsgeschichte an der Bergischen Universität. Doch ein ruhiges Leben zu führen, scheint im 1948 gegründeten Staat Israel unmöglich zu sein, und dafür gibt es eine Menge historischer Gründe. Welche das sind, darüber spricht der Wissenschaftler in den Bergischen Transfergeschichten.

Dr. Carsten Schliwski<br /><span class="sub_caption">Foto Lennart Mehrwald</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Carsten Schliwski studierte Judaistik, Islamwissenschaft und Geschichte in Köln und Jerusalem und erzählt: „Als ich vor 25 Jahren zum ersten Mal in Israel war, waren die Israelis sehr unzufrieden mit dem Zustand ihres Staates, weil es einfach nicht gelungen war, irgendeine Form von Frieden zu bekommen. An die häufigen Attentate, die das Land immer wieder erschüttern, kann sich kein Israeli jemals gewöhnen.“ Diese Sehnsucht nach Ruhe sei spürbar, die Frage sei nur, zu welchen Bedingungen, ob durch einen Kompromiss der beteiligten Parteien oder durch Zwang von außen.

Die Planungen, die letztendlich zur Staatsgründung 1948 führten, umfassten lediglich fünfzig Jahre und begannen mit dem ersten zionistischen Kongress 1897. Man müsse dabei bedenken, erklärt der Wissenschaftler, dass es hierbei nicht um eine Entkolonialisierung ging, sondern um ein Projekt, mit welchem man versuchte, die Juden wieder ins Heilige Land zu bringen. „Da waren die politischen Rahmenbedingungen auch andere, als wenn man eine autochthone Bevölkerung in die Unabhängigkeit entlässt, wie es beispielsweise bei der Dekolonisierung Afrikas der Fall war.“ Als Voraussetzung dafür mussten sich Juden nicht nur als eine Religions- oder Gesetzesgemeinschaft, sondern als eine Nation verstehen. Die Bildung anderer Nationalstaaten wie Belgien, Griechenland oder Italien im 19. Jahrhundert dienten somit als wegweisendes Vorbild, durch das sich ein nationalstaatliches Bewusstsein erst entwickeln konnte.

Die maßgebliche Grundlage für die Errichtung des Staates Israel war die sogenannte Balfour-Deklaration, die im Ursprung etwas ganz Anderes bewirken sollte. Darin erklärte sich Großbritannien am 2. November 1917 einverstanden, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volkes zu errichten. Earl Arthur James Belfour, nach dem diese Erklärung benannt ist, versuchte damit die USA zum Eintritt in den ersten Weltkrieg zu bewegen. Seiner Meinung nach kontrollierten die Juden damals das amerikanische Pressewesen, sodass die Deklaration für ihn, der auch als Antisemit bekannt war, politisches Kalkül bedeutete. „Die Briten fuhren eigentlich sogar dreigleisig“, ergänzt Schliwski. „Neben der Zusicherung der Unterstützung durch die Juden gab es auch ein Abkommen mit den Haschimiten, ein großes arabisches Reich zu gründen, und es gab die Bestrebungen, den Nahen Osten zwischen Frankreich und Großbritannien aufzuteilen.“ Belfour wollte vor allem Verbündete gewinnen, „doch das war auch ein Teil, der den Konflikt später verursachte, weil die unterschiedlichen Versprechen nicht eingehalten werden konnten“. Obwohl diese Deklaration lediglich eine Heimstätte für das jüdische Volk errichten wollte, wurde sie de facto die Voraussetzung zur Gründung des Staates Israel, den auch die Vereinten Nationen 1947 in ihrem Teilungsplan anerkannten.

Gottesfürchtig bedeutet nicht unbedingt friedlich

Israel besteht zu 75 Prozent aus einer jüdischen Bevölkerung, einer gottesfürchtigen Bevölkerung, wie man allgemein annimmt, doch ist das tatsächlich so? „Ich tue mich mit dem Begriff gottesfürchtiges Volk ziemlich schwer“, sagt der 50-Jährige. „Die meisten Juden sind nicht orthodox und auch nicht gottesfürchtig, jedenfalls nicht mehr als die meisten Christen, die meisten Muslime usw.“ Die Idee eines friedlichen, ruhigen Lebens sei da und „gottesfürchtig“ bedeute nicht unbedingt friedlich. Im Gegenteil, es könne auch aggressiv oder egoistisch in dem Sinne bedeuten, führt er aus, dass man das eigene Recht über das des anderen stelle, weil man den entsprechenden Glauben habe. „Warum es dort seit Jahrzehnten Krieg gibt, eigentlich schon vor der Gründung des Staates Israel, hat letztlich den Grund, dass es bis heute nicht gelungen ist, ein Abkommen zu erreichen, dass beiden Seiten genug Vorteile bringt, um einen Frieden einzuhalten.“ Deshalb sei auch in absehbarer Zukunft mit keinem Friedensabkommen zu rechnen.

Nach einer Studie aus dem Jahr 2015 erklärten sich 65 Prozent der Israelis als nicht religiös oder atheistisch. Die Religion spiele dennoch eine große Rolle, erklärt Schliwski, „denn sie ist auch bei den nichtreligiösen Israelis ein großer Teil ihrer Identität. Sie wird als kulturelle Identität empfunden, d. h. Jude ist man, weil man sich der jüdischen Tradition verbunden fühlt“. Das bedeute nicht unbedingt, dass man die Thora einhalte, oder an Gott glaube, sondern dass man eine bestimmte Lebensweise lebe und diese Lebensweise von den Traditionen des Judentums bestimmt sei. „Die Religiosität spielt eine große Rolle, das kennen wir auch aus anderen Ländern. Der Einfluss der Religiösen steigt und damit auch deren Ansprüche.“

Israel hat den Ruf, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Die Regierungsverhältnisse sind schwierig, Netanjahu hat viel Vertrauen verspielt. Könnte sich Israel gar zu einem Halacha-Staat – die Halacha ist der rechtliche Teil der Überlieferung des Judentums und umfasst 613 Gebote über Bräuche, Traditionen und allgemeine Rechtsgrundsätze sowie weitere daraus entwickelte Regeln – entwickeln? „Das glaube ich nicht,“ betont Schliwski, „was den Staat angeht, spielt in Israel im Augenblick weniger die religiöse Komponente als vielmehr die festgefahrene Situation zwischen rechten und linken politischen Parteien eine Rolle. Israel ist deutlich in zwei Lager gespalten.“

Die Hoffnung auf Frieden

Auf die Frage, ob aufgrund der politischen Lage überhaupt jemals ein Frieden in Israel möglich sei, muss der Judaist und Islamwissenschaftler erst einmal nachdenklich stöhnen und sagt dann: „Im Augenblick frage ich mich, wie lange die jetzige Koalition halten wird. Außenpolitisch in Bezug auf die arabischen Staaten und die Palästinenserfrage hat die Koalition ganz unterschiedliche Ansatzpunkte. Ich sehe da keine einheitliche Linie für Friedensverhandlungen von der israelischen Seite.“ Aber man müsse auch über die Palästinenser reden, denn die seien selber zweigeteilt. „Man hat den Gazastreifen, der von der Hamas beherrscht wird. Mit ihnen wird es kein Friedensabkommen geben, denn sie benötigen den Kriegszustand mit Israel zur eigenen Legitimation. Und wir haben die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation), die immer noch im Westjordanland herrscht und sich in den letzten 10 bis 15 Jahren nicht wirklich in Richtung Friedensverhandlungen bewegt hat. Sie waren eher damit beschäftigt, die eigene Bevölkerung ruhig zu stellen, weil die Gefahr einer Machtübernahme durch die Hamas auch im Westjordanland vorhanden ist. Sie haben sämtliche Ideen von Israel immer wieder abgeblockt.“ Zwar sehe er momentan keine Bereitschaft zu einem wirklichen Friedensschluss, aber unter Rabin seien damals auch wieder Gespräche geführt worden, die keiner für möglich gehalten hatte. Insofern könne sich die Situation auch immer wieder schnell ändern.

Die scheinbare Unmöglichkeit des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Glaubensgruppen habe nach Schliwskis Meinung zum Teil auch damit zu tun, dass es Glaubensgruppen gebe, die einen absolutistischen Anspruch hätten. „Jeder versucht mühsam sein eigenes Territorium zu wahren und die Idee eines Kompromisses kommt da nicht wirklich gut an. Aber dieser Konflikt hat nicht nur etwas mit Glaubensfragen zu tun. Es geht eben auch um politische und ökonomische Interessen.“ Daher stellt der Wissenschaftler folgende Frage: „Würde es die palästinensische Seite wirklich religiös interessieren, dass der Staat Israel weiterhin da ist, wenn es ihnen ökonomisch besser ginge, wenn sie genug Arbeitsplätze, genug Wohlstand hätten?“ Die religiösen Argumente würden dann in den Hintergrund treten. Vieles werde religiös argumentiert, hinge aber vielfach doch von den Lebensumständen ab. Das Problem der palästinensischen Flüchtlinge z. B. werde von Generation zu Generation sogar mit Unterstützung der Vereinten Nationen weitergegeben. Aus Flüchtlingslagern wurden Städte, in denen Geflüchtete in der vierten Genration leben. Diese Menschen hätten Haifa oder Jaffa niemals gesehen. „Das löst natürlich Konflikte aus, denn jede Vertreibung ist Unrecht“, stellt Schliwski fest. „Dabei gibt es immer wieder Vorschläge. Eine Möglichkeit eines Friedensabkommens wäre es, wenn man die Vertriebenen gegeneinander aufrechnet, denn es sind nicht nur ca. 800.000 Palästinenser aus ihren Städten, sondern ungefähr ebenso viele Juden aus den arabischen Ländern vertrieben worden. Statt jetzt von Israel Entschädigungen und ein Rückkehrrecht zu fordern, sollten die Palästinenser, so die Idee, von den arabischen Staaten, die die Juden vertrieben haben, die Entschädigung erhalten. Israel bekommt keine Entschädigung, denn sie haben die Leute integriert. Damit hätte man schon einen Großteil des Konfliktes entschärft.“

„Wenn ich mir die junge Generation in Israel anschaue“, resümiert er, „dann haben sie Interesse daran, ihr Geld zu verdienen und ansonsten zu leben, zu feiern und alles das zu machen, was man hier auch macht. Sie ordnen der Religion nicht alles unter.“

Uwe Blass

Die vollständige Transfergeschichte lesen Sie hier.


Dr. Carsten Schliwski studierte Judaistik, Islamwissenschaft und Geschichte in Köln und Jerusalem. Seit 2006 ist er Lehrbeauftragter für Religionsgeschichte in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität.

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