Universitätskommunikation – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

„Bergische Transfergeschichten“: Prof. Andreas Kalweit über ein Designprojekt für bedürftige Menschen

30.10.2020|11:58 Uhr

„Da war eine Frau, die kam aus gut situierten Verhältnissen in Düsseldorf. Sie hat in der Kindheit nie Grenzen gezeigt bekommen, hat ihre Grenzen immer weiter ausgereizt und ist in die komplette Drogensucht abgerutscht. Mit 53 Jahren ist der Körper kaputt. Aber sie hat die schwere Sucht überwunden, ist immer noch in einem Methadonprogramm und geht heute in die Schulen, um Jugendliche aufzuklären. Und das tut sie auf eine Art und Weise, die nicht betroffen macht, sondern zeigt: auch sie ist ein Teil der Gesellschaft.“ Mit dieser und weiteren persönlichen Geschichten haben sich Andreas Kalweit und seine Studierenden intensiv auseinandergesetzt. In den Bergischen Transfergeschichten berichtet der Professor für Manufacturing & Material Science in der Fakultät Design und Kunst an der Bergischen Universität darüber, was das Schicksal bedürftiger Menschen mit Design zu tun hat und wie daraus ein besonderes Kooperationsprojekt wurde.

Prof. Andreas Kalweit<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

„Am Rande“ heißt das vom Visionlabs, In-Institut für visionäre Produkt- und Innovationsentwicklung an der Bergischen Uni, finanzierte Projekt, dass Kalweit mit seiner Kollegin Dipl.-Des. Anne Kurth in Kooperation mit der Hochschule Düsseldorf initiierte. Im Fokus standen dabei Menschen, die aufgrund ihres sozialen Status als „am Rande der Gesellschaft“ klassifiziert werden. Ziel des Institutes ist die Entwicklung visionärer, zukunftsweisender und innovativer Produkte und Services, die Perspektiven für die technologischen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen der mittel- und langfristigen Zukunft formulieren.

Designer*innen können sich gut eindenken

Eine gute Voraussetzung für dieses besondere Projekt erklärt Kalweit so: „Ich glaube, dass sich Designer*innen gut eindenken können. Wir designen nicht einfach irgendetwas Schönes, sondern wir schauen erst einmal, ob überhaupt ein Bedarf da ist!“ Daher gehöre zur methodischen Vorgehensweise auch die Einbindung der Zielgruppen sowie Recherche und Interviews, um immer wieder die Wahrnehmung zu schulen und neue Denkweisen zu entwickeln.

Die Projektidee „Am Rande“ entstand dank einer alten Freundschaft: zwei Männer, die sich in ihrer Freizeit über Möglichkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit unterhielten. Der eine, Designer Andreas Kalweit, der andere, Thomas Tackenberg, Sozialarbeiter und Streetworker. Zwei Professionen, die man schwer zusammendenken kann. Aber weit gefehlt. „Da denkt man dann gar nicht an Produkte“, sagt Kalweit, „aber, wenn wir über konkrete Probleme gesprochen haben, dachte ich, dass man dazu auch gestalten kann.“ Sein Freund, der diplomierte Sozialarbeiter, der an der Hochschule Düsseldorf lehrt, arbeitet mit Suchtkranken, Prostituierten und Obdachlosen tagtäglich an der Basis. Die Problemlagen sind dort vielfältig. Vom Behördengang, über die tägliche Versorgung bis zu Übernachtungsmöglichkeiten gibt es diverse Abläufe, die kompliziert oder zumindest verbesserungsfähig sind.

Mit knapp 50 Teilnehmer*innen startete die Düsseldorf-Wuppertal-Kooperation im Sommer 2019 mit einer neu erarbeiteten Vorgehensweise – denn ein Produkt habe auch immer soziale Komponenten, sagt Kalweit, es interagiere mit der Umwelt oder dem Menschen und müsse vor allem eines sein: sinnvoll!

Städtische Wasserspender und Behörden-App

Eine behutsame Vorgehensweise war das A und O, und so setzten sich die Studierenden zunächst intensiv mit der Situation von Obdachlosen, Suchtkranken und Prostituierten auseinander. Durch die Vermittlung des Streetworkers, der die Menschen seit Jahren betreut, wurde der Kontakt hergestellt und in Kleinstgruppen Interviews geführt. Dazu besuchten die Teams über fünf Monate jeden Montag Einrichtungen, lernten die Bedürftigen kennen und bauten Vertrauen auf. „Wir haben Interviews mit Betroffenen geführt, wir haben Stadtführungen mit Obdachlosen gemacht, Prostituierte und Suchtkranke begleitet“, berichtet Kalweit, „und dabei immer wieder die Lebenssituation hinterfragt.“ So erkannten die Teams nach und nach die Bedarfe, die es zu gestalten galt.

Ideenansätze ergaben sich z. B. in Überlegungen zu Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose, denn „sie werden in der Regel überall weggesperrt“, sagt Kalweit. Die Städte seien für diese Menschen eher lebensfeindlich. „Das sind harte Bedingungen, denn die Plätze werden nach kurzer Zeit immer mal wieder geräumt. Es gibt keine guten Konzepte, wo die Menschen wirklich leben könnten und die Orte, die zur Verfügung gestellt werden, sind so weit von deren Wirkungsfeld entfernt, dass sie nicht genutzt werden.“ Ein weiteres zu lösendes Problem stellen fehlende Wasserspender dar, die es in vielen deutschen Städten nur marginal oder gar nicht gibt. „Obdachlose dehydrieren extrem im Sommer, haben nicht ausreichend Möglichkeiten, sich zu waschen“, sagt Kalweit und das sei ein wichtiger Bedarf. So entwickelte ein Student ein Modell, dass auf das bestehende Wassernetz der Unterflurhydranten sowie auf den Strom der Straßenlaternen zurückgreift und so die vorhandene Infrastruktur nutzt. Der dazu gestaltete Wasserspender ließe sich nach Bedarf auch abbauen, warten und ggfls. an anderer Stelle wieder aufbauen. Das gesamte Konzept inklusive Businessplan liegt in Form einer aussagekräftigen Dokumentation der Fakultät vor.

Ebenso der Kontakt zu Behörden mit den oft unverständlichen Formschreiben, die weder der fremdsprachige Flüchtling noch der Wohnungslose versteht, könnten durch Gestaltung übersichtlicher werden. „Da haben zwei Masterstudierende ein mehrstufiges Modell entwickelt“, berichtet der Wissenschaftler begeistert. Da die meisten Obdachlosen ein Handy besäßen, entwickelten die Studierenden eine Kommunikations-App, die den leichten Kontakt zu Sachbearbeiter*innen von Behörden zuließe. In der Kontaktaufnahme mit Verwaltungsfachleuten mussten sie aber auch erkennen, dass die vorhandenen Strukturen eine Verbesserung nicht unbedingt wünschten. „Da merkt man erst mal, wie tief man in Systeme eingreifen muss“, resümiert Kalweit.

Wir gucken immer weg. Wie kann man wieder hingucken?

In der Auseinandersetzung mit Menschen am Rande der Gesellschaft stellte sich das Team immer wieder die Frage, wie man den Kontakt zwischen Randgruppen und der Gesellschaft wieder herstellen könne. „Wir gucken immer weg“, sagt Kalweit, und fragt: „Wie kann man wieder hingucken?“ An dieser Stelle leisten die Projekte der beiden Hochschulen einen hilfreichen Beitrag: Neben den bereits genannten Konzepten wurden auch Schutzräume, in denen man geordnet und ohne Angst, beraubt zu werden, leben kann sowie praktische, unauffällige Aufbewahrungsmöglichkeiten für die wichtigsten Habseligkeiten, die eng am Körper anliegen, konzipiert und so einen Diebstahl im Schlaf verhindern. Selbst für die vierbeinigen Begleiter vieler Wohnungsloser entstand ein Konzept. Die sogenannte „Strolchbox“´, eine zweigeteilte Flasche, deren Silikonummantelung umgeklappt als Fress- und Trinknapf verwendet wird, ist zudem noch mit einem Multifunktionskarabiner versehen, der auch gleichzeitig Zecken entfernen kann.

Alle Projekte sind in einer limitierten Dokumentation zusammengefasst, die umfassend zeigt, mit welchen Ansätzen bestehende Probleme gelöst werden könnten. „Damit kann ich dann auch in die Politik oder zu Behörden gehen“, erklärt Kalweit, „ich kann zu Firmen gehen und sagen: ,Hier für die Hydranten habe ich einen Businessplan, ich nutze die Struktur und es ist auch schon rechtlich abgesichert.‘ Man muss die potenziellen Partner immer mit in die Entwicklung einbeziehen. Wenn man das macht, haben die Konzepte eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“

Wieder im Netz der Gesellschaft mitmachen

Die mehrmonatige Arbeit des Kooperationsteams hat alle Beteiligten auch persönlich verändert. „Erst wenn ich hingucke, merke ich auf einmal, ich werde mit Sachen konfrontiert, die mich unsicher machen und auf die ich nicht zu reagieren weiß“, sagt Kalweit abschließend. „Durch diesen langen Dialog über mehrere Monate, haben wir die Möglichkeit eines Zugangs bekommen. Und der war gar nicht so schwer und sehr vertrauensvoll. Wir durften acht Personengruppen von Prostituierten, über Obdachlose Suchtkranke und Flüchtlinge begleiten. Die waren sehr froh, dass sie mit ihrer Aufgabe wieder in der Gesellschaft mitmachen konnten. Die engagierten Designkonzepte für bedürftige Menschen sind ein erster Schritt, Randgruppen gesellschaftlich wieder zu integrieren. Die entstandene Dokumentation stellt für Stadtplaner*innen und Unternehmen eine interessante Ressource dar.

Uwe Blass

Die komplette Transfergeschichte lesen Sie hier.


Andreas Kalweit studierte nach einer Betriebsschlosser-Lehre Maschinenbau an der Hochschule Niederrhein, anschließend Industrial Design an der Universität GH Essen und schloss beide Studiengänge mit dem Diplom ab (Maschinenbau mit Auszeichnung). Seit 2012 ist er Professor für „Manufacturing & Material Science – Schwerpunkt Konstruktionstechnik und -systematik im Design“ an der Bergischen Universität Wuppertal.

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