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„Das bunte Glas zerstört den Hass“ – Der Geheimbund „Gläserne Kette“

30.10.2019|10:40 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 1. November 1919 gründete der Architekt Bruno Taut den Geheimbund „Gläserne Kette“. Wer und was dahinter steckte, das erklärt Dr.-Ing. Christoph Grafe, Professor für Architekturgeschichte und -theorie, im aktuellen „Jahr100Wissen“-Interview.

Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Der Architekt Bruno Taut errichtete 1914 bei der Werkbund-Ausstellung in Köln einen Pavillon, der die Möglichkeiten des Bauens mit Glas auslotete. „Das bunte Glas zerstört den Hass“ stand über dem Eingang. Während des bald darauffolgenden Krieges flüchtete sich Taut in Visionen einer gläsernen Baukunst, die ganze Länder überdecken und schließlich die Menschheit im Frieden vereinen sollte. Am 1. November 1919 vereinigte er eine kleine Gruppe radikaler Architekten und Künstler zum Geheimbund „Gläserne Kette“. Was war dessen Grundidee?

Grafe: Wie alle utopischen Ideen hat auch die „Gläserne Kette“ einen historischen Hintergrund. Das Experimentieren mit Glas als Baustoff beginnt spätestens im 18. Jahrhundert. Aber ganz entscheidend ist das Jahr 1851 mit der ersten großen Weltausstellung in London. Sie stellt eine Zäsur in der Wahrnehmung der Welt dar. Joseph Paxtons „Crystal Palace“ war der erste wirklich große Glaspalast überhaupt – ein Gebäude, das in nur einigen Monaten im Londoner Hyde Park errichtet wurde. Die neue Technologie des Konstruierens in Glas und Eisen schuf gänzlich neue Möglichkeiten im Ingenieurbau.

Bruno Tauts Visionen sind ohne diesen – recht pragmatischen – Vorgänger kaum denkbar. Der Kristallpalast war ein Gebäude unermesslichen Ausmaßes, mehrere hundert Meter lang. In ihm wurde die ganze Welt ausgestellt – es gab vielfache Abbildungen von Kunstwerken aus allen Kontinenten. Dieses Bild der globalen Verfügbarkeit ist eines der ganz entscheidenden kulturellen Bilder des 19. Jahrhunderts. In diesem Moment scheint die ganze Welt unter dem Einfluss eines westlichen Fortschrittdenkens und der Dominanz Europas erschließbar. Der Glaspalast hat also utopische Konnotationen, wenn auch unter dem Vorzeichen der Hegemonie der Kolonialmächte. Alles wird zusammengebracht und die Gegensätze und Konflikte, die Teil dieser weltumspannenden Ordnung sind, verschwinden. Wenn also Taut 1919 die Idee dieses gläsernen Bauwerks, in dem die Welt vereint ist, wieder aufgreift, dann kommt dies nicht von ungefähr.

In den stürmischen Monaten der Revolution von 1918/19 entstand mit der „Gläsernen Kette“ eine Brieffreundschaft, die Architekten und Künstler mit ähnlichen Vorstellungen vereinte. Sie schickten sich wechselseitig Skizzen ihrer fantastischen Baugedanken. Wie kam dieser elitäre Geheimbund „Gläserne Kette“ zustande?

Grafe: Wir müssen davon ausgehen, dass die Beziehungen unter den Mitgliedern schon vorher existierten. Neben seinem Bruder Max wurden auch eine Reihe von Personen im weiteren Umfeld Tauts Teil der „Gläsernen Kette“, unter anderen die jungen Architekten Wassili Luckhardt oder Hans Scharoun. Dies sind biografische Verbindungen, die aus einer gemeinsamen Erfahrung der Architekturausbildung, also aus dem Arbeiten in bestimmten Büros entstehen konnten.

Man darf nicht vergessen, dass der erste Weltkrieg für die Architektur – als Disziplin, die sich im Kern mit der räumlichen Ordnung der Welt befasst – vielleicht noch mehr als für andere Disziplinen eine unglaubliche Zäsur darstellt. In der Periode von der Jahrhundertwende bis 1914 sehen wir in der Architektur eine evolutionäre Reformbewegung. Das aufstrebende Deutschland sah sich, nicht zu Unrecht, als Pioniernation in den Bereichen der Gestaltung, dem Städtebau und der Architektur. Der Krieg führt zu einer Zäsur: es gibt Brüche in den Biografien, gute Freunde kommen nicht aus dem Krieg zurück. Dass in Deutschland eine utopische, nicht mehr mit dem evolutionären Denken verbundene Bewegung so besonders stark ist, kann unter anderem damit erklärt werden. In diesem Feld muss man den Geheimbund der „Gläsernen Kette“ sehen, der sich in einer relativ kurzen Zeit formiert und nicht von Dauer ist.

Die Ideen aus dieser Zeit inspirierten jedoch einen Teil der Avantgarde der 1920er Jahre. Vielleicht ist dies in der Entwicklung von Architekten wie Hugo Häring und Hans Scharoun noch sichtbarer als im späteren Werk von Bruno Taut selbst. Wenn man sich anschaut, welche Ideen Scharoun bis in die 1970er Jahre bearbeitet, dann erkennt man darin diese utopische Periode. Das ist zum einen die Leichtigkeit des Bauwerks und zum anderen eine komplexe, nichtaxiale Ordnung. In der Berliner Philharmonie sieht man diese gebrochenen Perspektiven der „Gläsernen Kette“ noch heute.

Max Taut, der Bruder des Gründers der „Gläsernen Kette“, sagte in einem späteren Interview: Damals hatten wir leere Taschen und deshalb die Köpfe voller Ideen. Heute haben wir Aufträge über Aufträge, aber keine Zeit mehr, ‚verrückte‘ Sachen zu denken. Löste sich die „Gläserne Kette“ auf, weil die Initiatoren durch Arbeitsaufträge in die reale Welt zurückkehrten?

Grafe: Für die Entwicklung von neuen Ideen in der Kunst und Architektur sind Zäsuren immer Schlüsselmomente, weil die gewöhnliche Produktion unterbrochen ist und man sich darauf besinnt, weswegen man Künstler oder Architekt geworden ist. Ein weiterer Punkt ist der, dass man sich heute kaum noch vorstellen kann, welche traumatische Situation und welche Befindlichkeiten 1918 herrschten, nachdem man 1914 massiv unter „Hurra-Schreien“ in den Krieg gezogen war und dann feststellte, dass damit eine ganze Kultur zerstört war.

Wir sehen, dass in der gesamten Kultur viele Künstler und Intellektuelle ihre Position radikal neu denken. Und dieses Neu-Denken in einer Situation, in der wieder eine Normalität angestrebt wird, ist vielleicht auch eine Möglichkeit, das Trauma zu überwinden. Andererseits hat es in Deutschland relativ lange gedauert, bis sich die ökonomische Situation einigermaßen normalisierte. Die konkreten Bauaufträge, die dann kamen, waren meist Aufträge für Wohnhäuser oder Bürogebäude. Diese andere Architektur sieht dann weniger verrückt aus und ist viel deutlicher eingebunden in die sozialen Praktiken des Alltags, der „Normalität“. Bei einzelnen Architekten wie Scharoun oder Häring sehen wir aber, dass dieser Impuls der „Gläsernen Kette“ erhalten bleibt, während Taut selber häufiger wieder eher einfache Architektur konzipiert.

Der Vorentwurf für das neue historische Zentrum in Wuppertal ist ein flaches Glasgebäude mit Treppenturm, welches sich zwischen die Kannegießersche Fabrik sowie das Engelshaus fügt, welches bis zum Engelsjahr 2020 fertiggestellt sein soll. Ist das die gläserne Baukunst des 21. Jahrhunderts?

Grafe: Ich würde eher die Frage stellen, ob die Baukunst des 21. Jahrhunderts noch aus Stahl und Glas ist. Stahl und Glas waren die Zukunftsmaterialien des 19. Jahrhunderts, die von der Avantgarde der zwanziger Jahre gefeiert wurden. Diese Idee, dass Transparenz Modernität repräsentiert und damit auch Befreiung herstellt, ist eine Idee des 20. Jahrhunderts. Im Zeitalter einer totalen, digitalen Sichtbarkeit auch der privaten Bereiche hat der Begriff Transparenz eine ganz andere Bedeutung als vor 50 Jahren und ist zunehmend negativ besetzt. Die Architektur von Stahl und Glas ist heute die Sprache des internationalen Finanzkapitalismus. Das emanzipatorische Potenzial der Glasarchitektur ist im 20. Jahrhundert völlig aufgebraucht worden. Der Gedankengang, dass die Menschheit, in transparenten, gläsernen Gebäuden eine befreite Existenz führen wird, ist nicht aufrecht zu erhalten. Die Wirklichkeit ist anders. Wir brauchen heute eine Architektur, die sich viel besser anpassen lässt als die Gebäude aus Stahl und Glas. Andere Materialien und Ästhetiken sind heute wichtiger. In einer Welt, deren Ressourcen endlich sind, ist eine Architektur der Kontinuität und des Kompromisses eine nachhaltigere Vision.

Was einen Neubau für das historische Zentrum betrifft, bin ich der Meinung, dass ein Entwurf der sich ausdrücklich mit dem vorhandenen Bestand auseinandersetzt, zukunftsweisender wäre als der Rückgriff auf die gläsernen Visionen des frühen 20. Jahrhunderts. Dann denke ich an das Engelshaus mit seiner außergewöhnlichen Architektur, die für die Entwicklung des Wuppertals im 18. und 19. Jahrhundert steht, und an die Industriearchitektur des heutigen Ausstellungsgebäudes. Die Idee, dass jetzt ein verbindender gläserner Neubau nötig wäre, der sich davon absetzt, ist eine altmodische „idée fixe“, die nichts mit dem Konzept einer technischen und kulturellen Nachhaltigkeit zu tun hat.

Uwe Blass

Weiteres Jahr100Wissen unter www.transfer.uni-wuppertal.de/de/jahr100wissen.html


Der 1964 in Bremen geborene Architekt Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität Wuppertal.

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