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Jahr100Wissen: „Die Zwanziger Jahre waren keineswegs eine pausenlose Ekstase“

30.04.2021|15:01 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit Ereignissen, die 100 Jahre zurückliegen und von besonderer Bedeutung für die Gesellschaft waren. Im Interview blickt der Historiker Dr. Georg Eckert auf ein gesamtes Jahrzehnt: die Zwanziger Jahre. Er spricht über kleine und große Ausschweifungen, neue Rollenbilder und von Tatmenschen zwischen Straßenschlachten und Atlantiküberquerung.

Dr. Georg Eckert<br /><span class="sub_caption">Foto UniService Transfer</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Herr Eckert, Sie haben vor kurzem das Buch „Die Zwanziger Jahre: Das Jahrzehnt der Moderne“ herausgebracht. Darin schreiben Sie im Kapitel „Der neue Mensch: Das Wesen der Moderne“, dass die Zwanziger Jahre eine neue Welt waren. Was meinen Sie damit?

Eckert: Die Zeitgenossen erlebten einen rapiden Umbruch, auch und gerade im Alltag: Betonbauten, Leuchtreklamen, Radio, Automobile und vieles andere veränderten das Leben – neue Standards kamen auf, die sich bis heute gehalten haben: zum Beispiel das DIN A4-Format, die Rolex, das „Kleine Schwarze“. Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, so schien es fast allen, hatte eine neue Epoche begonnen. Die „Welt von gestern“, wie sie Stefan Zweig später in seinen Memoiren titulierte, war offenkundig untergegangen – zum Entsetzen derjenigen, die sich in der alten Ordnung wohl gefühlt hatten, und zur Begeisterung derjenigen, die schon länger auf eine grundlegende Erneuerung von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gedrungen hatten. Zweig nannte die Zwanziger Jahre „eine Epoche wildesten Experimentierens“, die auch den Menschen selbst zum Gegenstand hatte. Dass zu dieser neuen Welt eben nur ein neuer, körperlich wie geistig gewandelter Mensch passe, war eine weitverbreitete Überzeugung; nicht wenige glaubten gar, eine Verbesserung des Erbguts der Menschheit anstreben zu sollen, mit teils fatalen Folgen.

Schon im Ersten Weltkrieg mussten sich die Menschen der vorrückenden Technik stellen. Sie schreiben, dass die ersten Kampfpiloten sich bezeichnenderweise auch „Ritter der Lüfte“ nannten. Die Digitalisierung heute verlangt den Menschen erneut eine moderne Anpassung ab. Wie schwer fiel es den Zeitgenoss*innen, das Alte abzulegen?

Eckert: Das Ende von Traditionen kann sowohl befreiende als auch einengende Wirkungen haben, heute wie damals. Zu den vielen Faktoren, von denen die Akzeptanz des Neuen abhängt, gehören Überzeugungen und Interessen: Ein Zimmermann konnte einem Betonflachdach naturgemäß wenig abgewinnen, für einen Hersteller von Kutscherpeitschen musste die Fließbandfertigung von Automobilen unweigerlich eine Bedrohung darstellen, selbst wenn er davon irgendwie fasziniert sein mochte, und in der hektischen Großstadtkultur der „Roaring Twenties“ und ihrer Ablehnung steckte auch ein Generationenkonflikt – ebenso heute in manchen digitalen Erlebniswelten. Disruption findet ja auch nicht jeder gut.

Die Gefahr, die sich aus dem Ablegen der alten Traditionen, hin zu neuen Werten ergab, zeigte sich auch im Erblühen des Nationalsozialismus. Auch 100 Jahre später haben wir in Krisensituationen wieder mehr mit Rechtsextremismus zu tun, dabei sollten wir doch aus der Geschichte lernen. Was passierte damals in den gesellschaftlichen Erneuerungsphasen?

Eckert: Der Aufstieg des Nationalsozialismus, der sich vielfach eher alte Ressentiments mit neuen Propagandamitteln zunutze zu machen verstand, war mitnichten die einzig mögliche Folge der Zwanziger Jahre. Sie waren auch in der Politik eine Phase des Experimentierens; die Weimarer Republik erwies sich zunächst als bemerkenswert stabil, Hitlers Putsch im November des Jahres 1923 scheiterte auf geradezu blamable Weise. Auch in der Tschechoslowakei beispielsweise entstand eine gefestigte Demokratie (die es in den USA, in Großbritannien, in Frankreich und anderen Ländern ohnehin gab).

Inmitten der gewaltigen Umbrüche waren für viele jene Bewegungen attraktiv, die ganz konkrete Sicherheiten und einfache Gewissheiten anboten. Das gelang im Deutschland der Weltwirtschaftskrise insbesondere der NSDAP, die alle Übel dem „System“ anzukreiden wusste. Ideale wie die „Volksgemeinschaft“ gaben vielen das Gefühl, inmitten eines bedrohlichen Wandels endlich festen Halt zu finden. In dieser Hinsicht erleben wir heute eine ähnliche Konstellation, in vielen anderen indes sind die Unterschiede groß.

Einigkeit über politische Grenzen hinaus, schreiben Sie, bestand jedoch darin, dass der neue Mensch ein Tatmensch sein sollte. Was ist ein Tatmensch?

Eckert: Im Ideal des Tatmenschen bündelten sich teils sehr gegensätzliche Anliegen, die indes einem ähnlichen Prinzip verpflichtet waren: nämlich demjenigen, dass es darauf ankomme, das als richtig Empfundene mutig auch gegen enorme Widerstände durchzusetzen – geredet sei genug, nun müsse gehandelt werden. Dabei rücksichtslose Brutalität gegen sich selbst und gegen andere zu üben, galt vielen als rühmlicher Beweis unbedingten, männlichen Entschlossenseins. Das Spektrum verherrlichter „Tatmenschen“ reichte von einem Kult der politischen Gewalt, die sich in Attentaten und Straßenschlachten äußerte, bis hin zur Begeisterung für Pioniertaten wie Charles Lindberghs Atlantiküberquerung mit dem Flugzeug. Freilich karikierten andere Zeitgenossen solche Heldenverehrung, indem sie statt großer Helden kleine Leute zu Protagonisten machten: etwa James Joyce seinen „Ulysses“ oder Hans Fallada seinen „Kleinen Mann“.

Emanzipation war in der Weimarer Republik auch großgeschrieben. Frauen erlangten das Wahlrecht und durften wie ihre männlichen Kommilitonen gleichberechtigt studieren. Woher kam dieses neue Selbstbewusstsein und wie zeigten die Frauen es in der Öffentlichkeit?

Eckert: „Die“ Frauen gab es in der Weimarer Republik ebenso wenig wie „die“ Männer; eine gleiche Zulassung zum Studium bedeutete ja mitnichten, dass Frauen an den Universitäten keine Nachteile mehr erlitten hätten. Wenn wir heute an selbstbewusste Frauen jener Jahre denken, dann sehen wir vor uns schlanke, sportliche, oftmals androgyne Gestalten in eher strengen, „männlich“ anmutenden Kleidern (emblematisch der schmal geschnittene Hosenanzug, gar mit Krawatte getragen), meist mit ebenfalls ehedem als maskulin empfundenen Kurzhaarfrisuren wie dem epochemachenden Bubikopf, mit einer Zigarettenspitze in einem bisweilen grell geschminkten Mund – Marlene Dietrich war so eine Stilikone der Zwanziger Jahre, und ein Film wie „Die drei von der Tankstelle“ (1930) machte die Provokation vollkommen, wenn eine reiche junge Frau in einem eleganten, schnellen Sportwagen von drei mittellosen Junggesellen bedient wird. Tatsächlich hatte dieses neue Selbstbewusstsein auch eine ökonomische Dimension, insbesondere Verkäuferinnen in Kaufhäusern oder Büroangestellte zeigten sich in einem neuen Rollenbild: demjenigen der ledigen – und dadurch nicht etwa unvollständigen – Angestellten, die sich mit ihrem eigenen, selbst erarbeiteten Geld ihre eigenen Vergnügungen gönnte. Aber das war keineswegs die Realität aller Frauen, sondern vor allem eine (groß-)städtische Lebensform.

Die Freizeitgestaltung für die Neuen Menschen nahmen immer ausschweifendere Züge an. Was konnte man denn damals so alles anstellen?

Eckert: Man müsste beinahe fragen, was man nicht hätte anstellen können: Fritzi Massary erzielte mit dem Chanson „Warum sollt‘ eine Frau kein Verhältnis haben“ noch im Jahre 1932 einen gewaltigen Publikumserfolg. Überhaupt war der Gestus der Ausschweifung – Francis Scott Fitzgeralds Bücher wie „Der große Gatsby“ und sein Leben zeugen davon – bisweilen wichtiger als die Ausschweifung selbst. Jedenfalls dürfen wir uns die Zwanziger Jahre keineswegs als pausenlose Ekstase vorstellen. Aus Sicht mancher Kritiker war es ja schon eine Ausschweifung, wenn große Kaufhäuser zu immer erschwinglicheren Preisen einem Massenpublikum so manche Waren anboten, die zuvor nur Luxusgüter gewesen waren – die Kulturrevolution fand vor allem im Alltag statt. Er eröffnete neue Möglichkeiten. So wurden Kinos wichtige Erlebnisorte der Moderne, nun auch dank Farb- und Tonfilm, in großen Konzertsälen spielten Ensembles wie die Comedian Harmonists auf, aus den USA kamen die neuartigen Musicals – hierzulande nannte man sie „Musikrevuen“ – ebenso herüber wie neue Jazz-Klänge.

Doch neben großen Spektakeln wie Autorennen gab es eben auch spektakuläre Neuerungen im Kleinen: zum Beispiel ein Bauboom für Hallen- und Freibäder, die auch ärmeren Bevölkerungsschichten offenstanden – was für die einen der Förderung der „Volksgesundheit“ diente, wie man es damals nannte, bedeutete für die anderen ganz neue Freizeitmöglichkeiten. Dass es für Arbeiter überhaupt Freizeit gab, dafür sorgte übrigens unter anderem die Einführung des Achtstundentages im Jahre 1918.

Schon damals beeinflusste Amerika mit seinem Lebensgefühl und Konsumverhalten das alte Europa der Zwanziger Jahre. Aber nicht alle waren damit einverstanden. Wann kippte die Stimmung und wie veränderte sich der neue Mensch?

Eckert: Die Vereinigten Staaten waren gelobtes und gefürchtetes Land zugleich; die amerikanische Industrie gab weltweit ein Vorbild an Effizienz. Mit der Entstehung einer konsumfreudigen Mittelschicht schienen sich die Versprechungen der Moderne zu erfüllen – die USA orientierten sich nicht mehr an Europa, eher orientierten sich viele Europäer nunmehr an den USA. Kritische Stimmen dazu gab es viele, aber den einen Wendepunkt kann man kaum identifizieren: Die Interessenlagen waren zu komplex. Am ehesten wäre wohl die Weltwirtschaftskrise zu nennen, mit der die Zwanziger Jahre ein düsteres Ende fanden: Sie bestätigte viele Vorbehalte auch gegen die amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung – und der neue Protektionismus der dreißiger Jahre wurde vielfach als heilsame Isolierung inszeniert: Hier konsumierte der neue Mensch bisweilen nicht mehr, sondern bewies seine Stärke im Verzicht.

Eckert, Georg: Die Zwanziger Jahre. Das Jahrzehnt der Moderne. Aschendorff Verlag 2020, 340 Seiten; 24,80 Euro.

Uwe Blass

Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Dr. Georg Eckert studierte Geschichte und Philosophie in Tübingen, wo er mit einer Studie über die Frühaufklärung um 1700 mit britischem Schwerpunkt promoviert wurde, und habilitierte sich in Wuppertal. 2009 begann er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Geschichte und lehrt heute als Privatdozent in der Neueren Geschichte.

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