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Jahr100Wissen: „Glotzt nicht so romantisch!“

08.02.2019|13:32 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Vor 100 Jahren entstand Bertolt Brechts Stück „Trommeln in der Nacht“. Dazu ein Interview mit der Germanistin Prof. Dr. Gabriele Sander.

Prof. Dr. Gabriele Sander<br><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: größere Version <br />Foto: UniService Transfer</span>

Das Theaterstück „Trommeln in der Nacht“ trug zunächst den Titel „Spartakus“. Warum hat Brecht ihn verändert?

Gabriele Sander: Brecht hat wenige Tage nach der Niederschlagung des Januar-Aufstandes der Berliner Spartakisten und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit der Arbeit an einem neuen Stück begonnen. Anfang Februar entstand unter dem Eindruck der politischen Ereignisse in Berlin und München die erste Fassung. Im März 1919 lernte er dann Lion Feuchtwanger kennen, der gute Kontakte zu den Münchner Kammerspielen hatte. Brecht gab ihm das Drama zu lesen, und Feuchtwanger war ganz begeistert davon, fand es sogar „genial“. Es war jedoch Feuchtwangers Frau Marta, die die Anregung gegeben haben soll, das Stück umzubenennen. So kam der neue Titel „Trommeln in der Nacht“ zustande, der ja zunächst neutraler als „Spartakus“ klingt. Er hat aber durchaus noch politische Konnotationen, denn das Trommeln als Revolutionsmotiv begegnet bereits in Heines „Buch Le Grand“ und in seinem Gedicht „Doktrin“. Der neue Dramentitel „Trommeln in der Nacht“ ist auf jeden Fall atmosphärisch dichter und gleichzeitig poetischer. Es gab aber auch noch andere Titelvarianten, u. a. „Von der Barrikade ins Ehebett“ – ein Titel, der den Entwicklungsgang der Hauptfigur Andreas Kragler ironisch beschreibt. Aber „Trommeln in der Nacht“ hat dann doch den Ausschlag gegeben und so ist das Stück ja auch bekannt geworden.

Bei der Premiere 1922 in München hingen im Zuschauerraum Plakate mit der Aufschrift: „Glotzt nicht so romantisch!“ Kaum eine Aufforderung bringt die Grundidee von Brechts epischem Theater kürzer und treffender auf den Punkt, nämlich die Auflösung der Illusion im Theater, die Aufforderung an das Publikum, sich mit dem Geschehen auf der Bühne kritisch auseinander zu setzen und aus den vorgeführten Umständen ebenjene in der Realität zu ändern. Inwieweit hat Brecht das Theater vor 100 Jahren revolutioniert?

Gabriele Sander: Dieser Ausspruch „Glotzt nicht so romantisch!“ ist ein Zitat aus dem Stück selber – aus dem Munde von Andreas Kragler. Brecht hat dem Text mit Blick auf die Inszenierung Bühnenanweisungen vorangestellt, und in der Tat erinnert besonders dieser Imperativ schon an das Konzept des epischen Theaters, das er allerdings erst im Laufe der 1920er Jahre in Zusammenarbeit mit Erwin Piscator, Alfred Döblin und anderen entwickelt hat. Aber man kann durchaus sagen, dass einige Elemente von „Trommeln in der Nacht“ bereits auf dieses neue Konzept vorausweisen. Dazu gehört, den Zuschauer im Theater mit eben solchen Sprüchen zu konfrontieren und zum Nachdenken anzuregen. So hat die provokative Mahnung „Glotzt nicht so romantisch!“ die Funktion, das Publikum aus allen Illusionen herauszureißen, also gerade nicht Empathie und Identifikation zu stiften, sondern einen kritischen Abstand zum Bühnengeschehen herzustellen. Das ist ein wesentliches Element des epischen Theaters, kein traditionelles Illusionstheater zu präsentieren, sondern durch den Einsatz von Verfremdungseffekten Distanz herzustellen. Solche Elemente gibt es tatsächlich schon in diesem frühen Stück. Als Leitmotiv begegnet z. B. der rote Mond, der sich auch auf die Revolution beziehen lässt, der sich aber am Ende als ein Papierlampion erweist. Auch die Trommeln erscheinen wie ein Spielzeug, und Andreas Kragler behauptet schließlich sogar: „Es ist gewöhnliches Theater“. Mit diesem selbstreflexiven Element wird gewissermaßen der Spielcharakter des ganzen Stückes offengelegt. Epochengeschichtlich lässt sich „Trommeln in der Nacht“ an der Schwelle zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit verorten. Das Stück zeigt nicht nur zukunftsträchtige formalästhetische Neuerungen, sondern ist auch thematisch innovativ, denn es setzt sich überaus kritisch mit den Folgen des Ersten Weltkriegs und der politischen Entwicklung nach 1918 auseinander.

„Trommeln in der Nacht“ war das erste Stück, das sich mit der Kriegsthematik des Ersten Weltkrieges befasste und war gleichzeitig auch Brechts erste Theaterpremiere. Der Theaterkritiker Herbert Ihering war hingerissen von Brechts „beispielloser Bildkraft der Sprache“ und schrieb: „Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert.“ Was ist das Besondere an diesem Text?

Gabriele Sander: Das Besondere ist zum einen die Revolutionsthematik, zum andern die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, denn es geht um einen Kriegsheimkehrer, der psychisch und physisch beschädigt, verletzt und traumatisiert ist, als er nach vier Jahren nach Hause kommt – geflohen aus französischer Kriegsgefangenschaft in Afrika. Er findet seine Braut Anna Balicke als Verlobte von Friedrich Murk vor, einem kleinbürgerlichen Aufsteiger und skrupellosen Kriegsgewinnler. In ihrer Familie steht der Vater prototypisch für einen opportunistischen Geschäftemacher. Er ist Inhaber einer Korbfabrik, die während des Krieges Geschosskörbe produziert hat. Nach Kriegsende verlegt er sich dann auf die Produktion von Kinderwägen. Das ist natürlich ein satirisches Element, mit dem Brecht auf die Produktion von Nachwuchs für weitere Kriege anspielt.

Wenn man sich die Fernseh- und auch Theaterlandschaft anschaut, hat man das Gefühl, dass die Gegenwart eher die großen Gefühle sucht – überall wird emotionalisiert und dramatisiert.
Was hat Brecht dem heutigen Theater, 100 Jahre später, denn noch zu sagen?

Gabriele Sander: Zunächst einmal ist festzustellen, dass nach meinem Eindruck die Brecht-Aufführungen doch etwas weniger geworden sind, vor allem nach der Wende. Das scheint auffällig zu sein. Dennoch ist und bleibt Brecht ein Autor, der die Theater- und Dramengeschichte im 20. Jahrhundert ganz wesentlich mit seiner auf Desillusionierung und kritische Distanzierung abgestellten Ästhetik geprägt hat. Er hat sich vom Illusionstheater aristotelischer Prägung radikal abgewendet, um ein Antimodell zu entwickeln. Diese Ästhetik ist, wenn man auf die Theaterbühnen schaut, bis heute sehr präsent. Das epische Theater mit seinen Verfremdungseffekten ist tatsächlich ein Gegenprogramm zu den trivialen Formen der Emotionalisierung und Dramatisierung, wie man sie beispielsweise in manchen Filmen und Fernsehserien findet. Brechts moderne Ästhetik ist sehr stark von der neusachlichen Strömung geprägt, die auf Nüchternheit, Distanz, Entsentimentalisierung und gerade nicht auf Emotionalisierung setzt.

Das Stück wurde in Wuppertal zum letzten Mal in der Spielzeit 1973/74 inszeniert. Brecht lässt darin seinen Protagonisten Kragler sagen: „Kann man das Militär abschaffen oder den lieben Gott? Kann man es abschaffen, daß es Leiden gibt und die Qualen, die die Menschen den Teufel gelehrt haben?“ In der heutigen politischen Situation ist Brecht also aktueller denn je. Warum wird es so selten inszeniert?

Gabriele Sander: „Trommeln in der Nacht“ ist von Brecht selber als sein „zwieschlächtigstes“ bezeichnet worden. Er hat ja lange daran gearbeitet, immer wieder Akte umgestellt, umgearbeitet, zuletzt 1953 eine verknappte Fassung produziert. Er hatte offenbar vor allem Schwierigkeiten mit der Konzeption der Hauptfigur Andreas Kragler, der sich trotz oder wegen der Kriegs- und Gewalterfahrungen nicht in einen Revolutionär verwandelt, sondern sich am Schluss von der politischen Aktion verabschiedet und ein bürgerliches Lebensmodell wählt.

Eine Aufführung in München, die vor zwei Jahren stattfand, hat sogar den Schluss geändert: Dort ließ man Kragler am Ende als Revolutionär auftreten, um gerade diese Zwiespältigkeit zu beseitigen. Dabei wurde auf fragmentarische Entwürfe Brechts zurückgegriffen, die diese Variante zeigen. Der Schluss, wie er in der Uraufführung, dem Erstdruck und den meisten Inszenierungen präsentiert wurde, scheint zwar problematisch zu sein. Meiner Meinung nach kommt aber die gesellschaftskritische Dimension des Stückes dadurch besonders deutlich zum Ausdruck, dass eben die Kriegsgewinnler, die Familien Balicke und Murk, die Oberhand gewinnen und nicht die revolutionären Kräfte. Da ist es nur konsequent, dass auch Andreas Kragler an der Seite von Anna Balicke den Rückzug ins Private wählt und sich für die Weiterführung der alten Ordnung entscheidet. Und geschichtlich gesehen, wenn man die Weimarer Republik und deren Entwicklung betrachtet, ist das ja in gewisser Weise hellsichtig gewesen.


Das Interview führte Uwe Blass.

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Gabriele Sander studierte Germanistik, allgemeine Sprachwissenschaft und Indogermanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und promovierte 1987. Danach arbeitete sie an verschiedenen literarischen Ausstellungen sowie sprach- und literaturwissenschaftlichen Projekten (u. a. kritische Werkausgaben von Kafka, Döblin und Böll) mit. Seit 1992 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Bergischen Universität Wuppertal.

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