Universitätskommunikation – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

„Jahr100Wissen“ Sozialdrama und Kömödie: Weltpremiere von Charlie Chaplins „The Kid“

14.01.2021|10:35 Uhr

In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftler*innen der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Am 21. Januar 1921 feierte der erste abendfüllende Spielfilm von Charles Spencer „Charlie“ Chaplin „The Kid“ seine Weltpremiere. Ein „Jahr100Wissen“-Interview mit Till Müller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät für Design und Kunst im Teilstudiengang Design Audiovisueller Medien.

Till Müller<br /><span class="sub_caption">Foto privat</span><br /><span class="sub_caption">Klick auf das Foto: Größere Version</span>

Der Film „The Kid“ (dt: Der Vagabund und das Kind) feierte am 21. Januar 1921 Weltpremiere und gilt als einer der autobiografischsten Filme Charlie Chaplins überhaupt. Wie kommen Biografen darauf?

Müller: In „The Kid“ schickt Charlie Chaplin seine bis heute weltberühmte Figur des Tramps auf eine besondere Mission. Der Film erzählt die Geschichte, wie der kleine Tramp zum Ersatzvater eines verlassenen Kindes wird. Zunächst Vater wider Willen, der einige komische Anstalten macht, das Baby und die Verantwortung loszuwerden, entwickelt sich dieser Egoist mit der Zeit zu einem hingebungsvollen Vater, der den Jungen wie sein eigenes Kind großzieht und sich später sehr wehrt, als ihm das Kind wieder weggenommen werden soll. Vor diesem Hintergrund werden die biografischen Bezüge sehr schnell klar.

Charlie Chaplin selbst ist auch nicht in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen. Seine Mutter hat sich nach seiner Geburt vom Vater getrennt, weil dieser zu viel trank. Sie bekam zwei weitere Söhne mit einem anderen Mann, der ihr dann eines der Kinder als Baby wegnahm, um es selbst zu erziehen. Den Unterhalt für die Familie allein zu erstreiten, war für die Mutter nicht leicht, zumal sie Sängerin war und ihre Stimme verlor. Und als dann noch Krankheit und Depression hinzukamen, mussten Charlie und sein Bruder ins Armenhaus. Er wuchs dann in Heimen und Internaten auf. Interessant ist jetzt aber, in welcher Situation Chaplin nun die Idee zu einer Bearbeitung dieser Kindheit kommt.

1918 hatte er überstürzt eine junge Schauspielerin geheiratet, was nach eigener Auskunft seine Kreativität völlig lahmgelegt hatte. Sie wird schwanger und bekommt ein Kind, das drei Tage nach der Geburt verstirbt. Dieses traumatische Ereignis befreit Chaplin offenbar aus der Kreativblockade, denn nur zehn Tage nach der Beerdigung seines Neugeborenen, castet Chaplin schon Babys im Studio für den Film. Man kann sich ausrechnen, unter welchen emotionalen Umständen die Vorproduktion und die Dreharbeiten stattgefunden haben. Die Ehe ist dann in Folge dessen auch zerbrochen, woraus sich für „The Kid“ eine kuriose Postproduktionsphase ergab. Die Produktionsfirma lag mit Chaplin in Zahlungsstreitigkeiten. Man versuchte über die Exfrau im Trennungsstreit Ansprüche geltend zu machen, weswegen Chaplin in einen anderen Bundesstaat floh, und den Film unter abenteuerlichen Bedingungen in einem Hotelzimmer zusammenschnitt.

Der Film ist die erste Verschmelzung von Sozialdrama und Komödie in der Geschichte, der im Vorspann mit den Worten „Ein Film mit einem Lächeln – und vielleicht, einer Träne“ wirbt. Was war so besonders daran?

Müller: Die meisten Komödien der Stummfilmzeit behandelten keine ernsten Themen und nahmen ihre Figuren kaum ernst. Auch Chaplin hatte zuvor unzählige Kurzfilme produziert, die eher auf körperbetonte, alberne Witze setzen und in denen er vielmehr durch seine Körperbeherrschung und sein Timing beeindruckte. 1915, also schon sechs Jahre vor „The Kid“ geht Chaplin dann mit dem Film „The Tramp“ über diese reine „physical comedy“ hinaus und erweitert seine Figur um ein weiteres Element, das Pathos. Der Tramp muss am Ende des Films feststellen, dass er die Zeichen der Frau seiner Träume missverstanden hat und sie einen Anderen liebt. Der Tramp ist traurig, lässt sich aber nicht unterkriegen, schüttelt den Kummer ab und zieht weiter.

Den Kinobesucher, der sich damals eigentlich eine Slapstickkomödie angucken wollte, muss dieser rührende Moment am Ende sehr überrascht haben. Jedenfalls war „The Tramp“ ein riesiger Erfolg. Von da an war diese Mischung aus Freude und Rührung typisch für Chaplins Filme: das Lächeln und die Träne.

Chaplin hat mit dem Tramp eine cineastische Ikone geschaffen. Wie entstand diese Figur?

Müller: Chaplin hat den Tramp in so vielen Filmen verkörpert, dass es heute so ist, dass wir sofort an die Erscheinung des Tramps denken, wenn wir an Charlie Chaplin denken: Hut und Stock, ausgebeulte Hosen und viel zu große Schuhe, schmales Oberlippenbärtchen und Watschelgang. Fakt ist, Chaplin hat ja schon auf der Bühne seiner Mutter mit fünf Jahren Erfahrungen mit Sketchaufführungen gesammelt und auch in verschiedenen Clown-Gruppen agiert. Die oben genannten Utensilien dienen auf vielfältige Weise einer visuellen Komik. Über die zu großen Schuhe konnte er unversehens stolpern, den Hut konnte er reflexartig ziehen, wenn er irgendwo aneckte, usw. Die so ausgestattete Figur sehen wir schon 1914 das erste Mal in einem Film, der heißt „Kid Auto Races at Venice“. Da hat er schon den Watschelgang und das Stöckchen, mit dem er sich selber haut. Das war der Probelauf für „The Tramp“ ein Jahr später.

Die Hauptfigur dieses Films war inspiriert von einer realen Begebung. Chaplin hatte in San Francisco einen Landstreicher (engl.: tramp) getroffen, dessen Ruhe und Fröhlichkeit angesichts seines schweren Lebens ihn nachhaltig beeindruckt hat. Nach dem Erfolg dieses Films hat Chaplin den Tramp zwanzig Jahre lang verkörpert und immer wieder verfeinert.

Die Trennungsszene zwischen dem Tramp und dem Kind ist die stärkste Szene des Films. Warum?

Müller: Als die Ordnungshüter dem Vater den Sohn wegnehmen wollen, erreicht der Film seinen emotionalen Höhepunkt. Unsere Protagonisten haben bis hierhin bewiesen, dass sie als Duo alle Herausforderungen und Widrigkeiten des Lebens gemeinsam meistern können. Aber nun tritt eine antagonistische Kraft auf den Plan, die ja ein berechtigtes Motiv hat, und das weiß auch der Zuschauer. Die Ordnungshüter sind ja nur der verlängerte Arm der Jugendfürsorge und die wiederum handelt im Sinne der leiblichen Mutter, die inzwischen einen respektablen Platz in der Gesellschaft eingenommen hat. Sie könnte dem Jungen ein Leben abseits der Straße ermöglichen, wo er sich seinen Unterhalt nicht ergaunern müsste. Man weiß insgeheim, was das Beste für den Jungen wäre und wünscht sich auch, dass die Mutter ihr Kind zurückbekommt. Trotzdem fragt man sich, wie Vater und Sohn vielleicht doch eine gemeinsame Zukunft haben können. Das ist in diesem Moment auch so grausam. Dazu kommt, dass die Darstellung der Schauspieler in dieser Szene wirklich sehr glaubwürdig ist. Von Kritikern wird nicht nur Chaplins Leistung gewürdigt, sondern auch die seines Co-Stars Jackie Coogan, der den Jungen verkörpert.

Die einfühlsam inszenierte Geschichte entfaltet sich dramaturgisch geschickt an diversen Slapstick-Szenen entlang und kritisiert trotzdem die sozialen Verhältnisse der Zeit. Was macht den Film heute noch sehenswert?

Müller: Bei meinen Studierenden beobachte ich, dass Slapstick-Szenen aus der Zeit bei einigen immer noch ein Schmunzeln hervorrufen. Im Großen und Ganzen erwarten wir bei unseren heutigen Sehgewohnheiten sicher mehr. Mich persönlich beeindruckt die Haltung, mit der Chaplin den Film macht, die auch im Tramp angelegt ist. Nicht nur die allgemeinen sozialen Verhältnisse waren damals schwierig, sondern auch im Privatleben hatte es den Filmemacher wie gesagt hart getroffen. Trotzdem lässt er sich nicht unterkriegen, bewahrt die Ruhe, den Humor und bewältigt die Krise. Das ist eine Botschaft von zeitloser Relevanz. Schauen wir heute in die Welt und unseren Umgang mit aktuellen Krisen, ist das sicherlich ein Grund, sich den Film oder andere Filme von Chaplin noch mal anzuschauen.

„The Kid“ ist Chaplins erster Langfilm, der bis heute über 60 Mio. Dollar weltweit eingespielt hat. Er lieh sich Geld, schrieb, schnitt und produzierte den Film selbst. Er komponierte, wie zu den meisten seiner späteren Produktionen, auch noch eine eigene Filmmusik. Herr Müller, Sie haben in der Vergangenheit u. a. ein Seminar zur Erzählung und Dramaturgie im Filmschnitt des 20. Jahrhunderts angeboten. Kann der Stummfilm für die heutige Generation noch eine Inspiration sein?

Müller: Bei dieser Frage denke ich zunächst an den teilweise stummen Film „The Artist“, der 2012 Oscars und andere Preise bekommen hat. Ja, Stummfilme können heute noch eine Inspiration sein, denn es gibt sie ja auch noch. Filme finden immer häufiger auf Infoscreens und in sozialen Medien ihre Anwendung und müssen dort ohne Ton auskommen. Der klassische Stummfilm war nicht stumm und wurde stets mit Musik präsentiert. Auch das Bewegtbild mit rein musikalischer Untermalung ist heute noch gegenwärtig in Musikvideos, Werbung, Trailern usw.

Der Stummfilm ist auch immer noch Bestandteil der Lehre bei uns im Teilstudiengang Design Audiovisueller Medien. Abgesehen von meinen filmtheoretischen Lehrangeboten auch in der Filmpraxis. Zumindest so, dass ich als Methode zur Überprüfung von Drehbuch oder Schnittfassung vorschlage, den Ton mal auszuschalten, bzw. den Dialog mal auszublenden und den Film einmal als Stummfilm zu betrachten, um zu schauen, ob er immer noch funktioniert. Angehende Filmemacher*innen können so schnell feststellen, an welchen Stellen sie sich zu sehr darauf verlassen haben, dass die Sprache schon die Geschichte transportiert. Das ist aber nicht „filmisch“, wie ich dann immer sage. Denn eine Geschichte nur über Sprache zu vermitteln, das kann auch die Literatur oder das Hörspiel leisten. Das Erzählen von Geschichten mit bewegten Bildern ist ein anderes, und da stehen wir in einer Tradition, die vor gut 100 Jahren von Filmemachern wie Charlie Chaplin begründet wurde.

Uwe Blass

Das komplette „Jahr100Wissen“-Interview lesen Sie hier.


Till Müller studierte Gestaltungstechnik mit Schwerpunkt Mediendesign und Kunst an der Bergischen Universität. Seit 2013 lehrt er als Akademischer Rat in der Abteilung Mediendesign und Raumgestaltung im Teilstudiengang Design Audiovisueller Medien in den Feldern der Film- und Medientheorie sowie der Filmpraxis und -technologie.

Weitere Infos über #UniWuppertal: